Verfassungsrechtliche und rechtspolitische Aspekte einer allgemeinen Corona-Impfpflicht

Eine allgemeine Impfpflicht greift in das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 (2) S. 1 GG ein. Sie muss deshalb verhältnismäßig sein. Der Gesetzgeber darf mit der Impfpflicht nur legitime Ziele verfolgen. Als solche kommen zuvörderst der Gesundheitsschutz und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens in Betracht. Darüber hinaus kann die Impfpflicht dem Schutz von Menschen dienen, die nicht geimpft werden können. Dazu tritt das Ziel, die Beschränkung mit weiteren wirtschaftlichen und psychosozialen Folgen durch pandemiebedingte Lockdowns (wirtschaftliche Schäden, Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen) zu verhindern.

Der Staat darf dem Bürger einen Schutz vor Ansteckung mit dem Corona-Virus nicht gegen seinen Willen aufdrängen. Die persönliche Autonomie des Einzelnen gewährleistet auch im Hinblick auf eine Erkrankung mit COVID-19 eine „Freiheit zur Krankheit“ (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 8. Juni 2021 - 2 BvR 1866/17 u.a. -).

Die Einführung einer Impfpflicht muss geeignet, erforderlich und angemessen sein.

Sie ist dann geeignet, wenn mit ihr die genannten Zwecke des Gesundheitsschutzes erreicht werden können. Dabei kommt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu. Da Impfungen das Infektionsrisiko und die Virusübertragung senken und schwere Krankheitsverläufe verhindern können, ist eine Impfpflicht grundsätzlich zur Erreichung der mit ihr verfolgten Ziele geeignet.

Gelingen kann dies allerdings nur, wenn die Impfpflicht tatsächlich durchsetzbar ist. Der Gesetzgeber muss deshalb dafür sorgen, dass ihr Vollzug gewährleistet ist. Das kann z. B. durch ein Impfregister erreicht werden. Darüber hinaus erscheint es problematisch, dass – im Gegensatz zu anderen Impfungen - keine lebenslange Immunität auf Grundlage einer von vornherein feststehenden Anzahl von Impfungen erreicht werden kann.

Erforderlich ist eine allgemeine Impfpflicht dann, wenn kein milderes, das Grundrecht weniger beeinträchtigendes Mittel zur Verfügung steht und in gleicher Weise geeignet ist, den angestrebten Zweck zu erreichen, ohne Dritte oder die Allgemeinheit stärker zu belasten.

Naturgemäß greifen Impfempfehlungen und spezifische Anreize nicht in das Grundrecht ein und sind als mildere Mittel zu betrachten. Insoweit stellt sich die Frage, ob die vorhandene Impfquote ausreicht bzw. sich durch weitere niederschwellige und freiwillige Maßnahmen erhöhen lässt. Auch ist daran zu denken, lediglich gruppen- bzw. einrichtungsbezogene Impfpflichten zu veranlassen, die dem Schutz besonders vulnerabler Gruppen dienen.

Die Aufrechterhaltung der bisherigen Lockdown-Schutzmaßnahmen ist ein weiteres denkbares milderes Mittel als der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, wobei damit auch erhebliche wirtschaftliche und psychosoziale Folgen verbunden sind. Aus Sicht der Nichtgeimpften kann das Recht auf gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe nicht auf unbestimmte Zeit ausgesetzt werden.

Der Ausbau von Krankenhauskapazitäten ist als milderes Mittel denkbar, wobei dies kurz- und mittelfristig nicht umsetzbar erscheint. Im europäischen Vergleich steht Sachsen gut da. Als mildere Mittel kommen auch umfassende Testpflichten in Betracht.

Aufgrund der derzeitigen Infektionslage erscheint eine Impfpflicht nicht erforderlich. Trotz steigender Inzidenzen sind derzeit weniger schwere Krankheitsverläufe zu verzeichnen. Die kritischen Belastungswerte für Krankenhausbetten sind derzeit nicht erreicht. Die Impfung begrenzt nicht automatisch die Verbreitung der Virusvarianten.

Bei der Frage der Angemessenheit geht es darum, dass das angestrebte Ziel nicht außer Verhältnis zum Mittel stehen darf. Es bedarf der Gesamtabwägung der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht dazu herangezogener Rechtfertigungsgründe. Impfreaktionen und Nebenwirkungen sind dabei grundsätzlich zu berücksichtigen. Generell kann eine Impfpflicht nur angemessen sein, wenn eine Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission vorliegt. Die Impfpflicht ist ausgeschlossen, wenn aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden kann.

Es liegt bereits eine erhebliche Impfquote vor, die durch weitere niederschwellige Maßnahmen und sonstige Anreize gestärkt werden kann. Zahlreiche Impfdurchbrüche lassen Zweifel an einer generellen Eignung entstehen, die durch die Notwendigkeit – regelmäßiger – Auffrischungsimpfungen verstärkt werden. Eine kollektive Inpflichtnahme des Bürgers mit dem Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit kann nur dann in Betracht kommen, wenn der Staat alle anderen denkbaren Schutzmaßnahmen als mildere Mittel ausschöpft und die Nebenwirkungen der Impfung sowie das Risiko entsprechender Langzeitschäden berücksichtigt und in seine Abwägungsentscheidung einfließen lässt. Diese Voraussetzungen liegen derzeit nicht vor.

Long-Covid-Folgen für die Bürger und die Gemeinschaft sind ebenso zu berücksichtigen wie die Belastung des Gesundheitssystems. Im Einzelfall bedarf es zum Ausschluss unzumutbarer Belastungen für den Bürger der Möglichkeit von Ausnahmeregelungen.