Standpunkte zum verfassungsrechtlichen Anspruch auf Schulbildung in Coronazeiten (STAND: 31.05.2021)

Aus der Mitte des LACDJ Sachsen wurden eine Debatte über den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Schulbildung jedes Kindes initiiert. Unter Einbeziehung der Meinung von Bürgern, Eltern und Lehrern entstand folgendes Positionspapier.

1. Ausgangslage/Bestandsaufnahme

Die COVID-19-Pandemie hat zu massiven Einschnitten in den Schulunterricht geführt. Seit über einem Jahr findet an sächsischen Schulen kein durchgehender Präsenzunterricht mehr statt. In Abhängigkeit von Inzidenzwerten sind seit März 2020 Homeschooling und Wechselunterricht an der Tagesordnung. Die damit einhergehenden Auswirkungen für schulpflichtige Kindern und deren Eltern sind dramatisch.

Inhalt, Ausgestaltung und Qualität des Unterrichts hängen noch mehr als sonst von der jeweiligen Schule und der verantwortlichen Lehrerin oder dem verantwortlichen Lehrer ab. An Grundschulen wird größtenteils nur in den Hauptfächern unterrichtet, während Fächer wie Kunst, Musik, Schulgarten, Sport oder Werken kaum gelehrt werden. An weiterführenden Schulen liegt es am jeweiligen Fachlehrer, überhaupt Onlineunterricht anzubieten oder den Kindern in häuslicher Lernzeit Gelegenheit zu geben, sich Wissen im Selbststudium anzueignen. Zwar steht mit LernSax eine digitale Plattform für Distanzunterricht zur Verfügung. Da jedoch nicht alle Haushalte über Computer, Drucker und leistungsfähige Internetverbindungen verfügen, ist ein Teil der Kinder und Jugendlichen vom digitalen Unterricht ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass aufgrund von technischen Problemen oder teilweise fehlender Bereitschaft von Lehrkräften zur Nutzung der Plattform digitaler Unterricht nicht regelmäßig, nicht in allen Schulklassen und nicht fächerübergreifend stattfindet. Kinder erhalten im Distanzunterricht nur sporadisch Noten auf erbrachte Leistungen.

Mit monatelangem Fernunterricht, Fehlen des Schulalltags, mangelnden sozialen Kontakten zu Mitschülerinnen und Mitschülern und fast vollständigem Verbringen des Tages in den eigenen vier Wänden gehen verstärkt psychische Probleme von Kindern und Jugendlichen einher. Kindeswohlgefährdungen haben deutlich zugenommen; beispielhaft verdreifachten sich im Landkreis Meißen die Fallzahlen.

Die Situation benachteiligt besonders Kinder aus bildungsfernen Schichten, deren Bildungschancen selbst in Normalzeiten deutlich hinter denen anderer Kinder zurückbleiben. Art. 29 der Sächsischen Verfassung spricht vom gleichen Zugang auf Bildung. Dies scheint durch den sehr uneinheitlichen digitalen Unterricht der einzelnen Schulen gefährdet. In den Art. 101 und 102 SächsVerf gewährleistet das Land das Recht auf Schulbildung. Auch dies könnte bei der derzeitigen nur teilweisen Beschulung gefährdet sein.

2. Rechtliche Einordnung

Das Angebot und die Durchführung von Schulunterricht stehen nicht im Belieben der Politik, sondern folgen einem vorgegebenen rechtlichen Rahmen.

Das Recht auf Bildung stellt ein universelles Menschenrecht dar (Art. 26 Allgemeine Menschenrechtserklärung, Art. 13 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Art. 28 Kinderrechtskonvention). Bildung ist in der Verfassung des Freistaates Sachsen als ein Staatsziel formuliert (Art. 7 Abs. 1 SächsVerf). Art. 9 Abs. 1 SächsVerf erkennt das Recht eines jeden Kindes auf eine gesunde seelische, geistige und körperliche Entwicklung an. Gemäß Art. 29 Abs. 2 SächsVerf haben alle Bürger das Recht auf gleichen Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen. Art. 101 ff. SächsVerf enthalten Regelungen zum Bildungswesen; Art. 102 Abs. 1 SächsVerf gewährleistet das Recht auf Schulbildung und bestimmt eine allgemeine Schulpflicht. Der Freistaat Sachsen steht in der Pflicht, die notwendigen finanziellen, sachlichen und organisatorischen Mittel bereitzustellen, damit jeder das Recht auf Schulbildung wahrnehmen kann. Dabei basiert die Vorstellung des Verfassungsgebers auf der Durchführung von Präsenzunterricht.

Der staatliche Bildungsauftrag und das Recht des Einzelnen auf Bildung gelten nicht absolut und sind nicht abwägungsresistent. Sie müssen sich mit anderen konfligierenden grundrechtlich geschützten Rechtsgütern messen; zwischen ihnen ist ein schonender Ausgleich am Maßstab der praktischen Konkordanz vorzunehmen. Dies gilt im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie insbesondere für die staatliche Schutzpflicht für das Leben und die Gesundheit (Art. 16 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 SächsVerf).

Es bedarf deshalb in Pandemiezeiten einer sorgfältigen Abwägung zwischen Belangen des Gesundheitsschutzes auf der einen und Belangen der Bildung auf der anderen Seite.

Bei Inzidenzwerten von über 100 unterliegt der Schulbetrieb den bundesgesetzlichen Einschränkungen des § 28b Abs. 3 IfSG. Bei darunterliegenden Inzidenzwerten kann der Landesgesetzgeber gemäß § 28a Abs. 1 Nr. 16 i.V.m. § 33 Nr. 3 IfSG i.V.m. der jeweiligen Coronaschutzverordnung die Schließung von Schulen oder die Erteilung von Auflagen für die Fortführung des Betriebs als Schutzmaßnahme zur Verhinderung der Verbreitung von COVD-19 vorsehen.

Gesetzliche Regelungen zur konkreten Ausgestaltung von Homeschooling und Wechselunterricht sind nicht vorhanden.

3. Ausblick

Ein klares Konzept zur Ausgestaltung von Homeschooling im Freistaat Sachsen muss künftig Schwerpunkt für Schulen, Lehrkräfte und Eltern werden. Der Improvisation müssen künftig klare Strukturen folgen und der verfassungsrechtliche Anspruch allen Kindern gewährt werden.

Die Politik darf die skizzierten Probleme nicht aussitzen und darauf hoffen, dass sich die COVID-19-Pandemie bald erledigt haben wird. Es gilt, aus dem bisherigen Pandemiegeschehen zu lernen und daraus für Gegenwart und Zukunft die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die aktuelle Pandemie ist noch nicht beendet und niemand kann vorhersagen, wann die nächste auf uns zukommt. Das kann erst in hundert Jahren der Fall sein, aber auch schon in Monaten.

Der LACDJ spricht sich deshalb dafür aus, eine gesetzliche Regelung für den Schulunterricht in Pandemiezeiten zu schaffen und somit das Thema dem für Gesetzgebungsverfahren üblichen Diskurs zu unterwerfen. Im Hinblick auf die beschriebene hohe grundrechtliche Relevanz gebieten die Wesentlichkeitsdoktrin eine gesetzliche Ausgestaltung der an die Regelungen des Infektionsschutzrechts anknüpfenden genaueren Voraussetzungen von Homeschooling und Wechselunterricht im Sächsischen Schulgesetz. Dies betrifft – bei Inzidenzen von weniger als 100 (vgl. § 28b Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 IfSG) – auch die Teilnahme am Präsenzunterricht in Krisenzeiten, sofern dieser von bestimmten Voraussetzungen abhängig gemacht wird (Testpflicht, Impfnachweis, Nachweis einer überstandenen Infektion). Nicht geimpfte Kinder dürfen nicht vom Unterricht ausgeschlossen werden.

Die detaillierte Ausgestaltung von Homeschooling und Wechselunterricht kann dem Verordnungsgeber überlassen bleiben. Lehrpläne sind an die Besonderheiten dieser Unterrichtsmodelle anzupassen. Das zuständige Fachressort hat dafür Sorge zu tragen, dass Schuldirektorinnen und -direktoren sowie Lehrkräfte umfassend geschult werden, um den besonderen Anforderungen an den Unterricht in Krisenzeiten zu entsprechen.